Wie so ziemlich jede Frau aus besserem Stand in Ketterdam bist du davon überzeugt, dass Geld das höchste Gut ist. Entsprechend hast du es nicht in Frage gestellt, als dich deine Eltern an den wohlhabenden und einflussreichen Jan Van Eck verheiratet haben, der deutlich älter ist als du. Immerhin wird er gut für dich sorgen und eigentlich wäre er ja auch ganz hübsch, wenn er… nun ja, nicht so alt wäre. Du selbst bist ein Schöngeist und liebst die schönen Dinge des Lebens: Hübsche Kleider, Bälle, Tiere (neben einem Hund hältst du ein paar Wellensittiche) und Musik. Du selbst wähnst dich als Gesangstalent, worin dich dein Ehemann auch bekräftigt. Überhaupt scheinst du als Sonnenschein durch die Flure des ehrenwerten Van Eck Anwesens zu schweben und bringst überall Licht und gute Laune. Manch einer mag dich als einfältig bezeichnen, doch letztlich hast du das Herz am rechten Fleck. Und womöglich ist deine Naivität auch nur Teil einer Fassade? Denn die Liebe zur Musik ist definitiv nicht das Einzige, das du mit deinem Musiklehrer teilst. Ein Geheimnis, von dem dein Ehemann nicht im Geringsten etwas ahnt – was auch besser so bleibt. Immerhin trägst du sein Kind unter deinem Herzen.
Ob du etwas davon ahnst, dass dein Ehemann seine Hände in allerlei schmutzigen Geschäften hat und deinen Geliebten dazu zwingt, sich daran zu beteiligen? Dich hat es auf jeden Fall verwundert, als Jans Sohn Wylan, der nur kaum jünger ist als du, plötzlich gegangen ist und seither auch nicht mehr auftauchte.
Ob du davon träumst, mit deinem Geliebten – und vorzugsweise dem Vermögen deines Ehemannes – durchzubrennen oder ob du zufrieden damit bist, Jan als Ehemann zu lieben und Adem als jemand auf Augenhöhe, weißt nur du.

Du bist vor etwa einem halben Jahr im Haushalt der Van Ecks als Musiklehrer angestellt worden, positiv ausgedrückt. Du bist Suli und der Armut deiner Familie nur deshalb entkommen, indem du einen Knebelvertrag als Musiklehrer im Haushalt der Van Ecks eingegangen bist. Das wenige Ersparte deiner Familie genügte gerade einmal, dir eine grundlegende schulische Bildung zu sichern, deine musikalische Bildung hast du durch allerlei Nebenjobs finanziert. Das Familiensymbol der Van Ecks in Form eines Lorbeerzweigs als goldene Nadel steckt an deinem Anzug und markiert dich als deren Eigentum. Zumeist kannst du es dir schönreden: Es ist ein notwendiger Schritt auf dem Weg deiner Karriere als namhafter Musiker und Komponist und eigentlich hast du es doch ganz gut. Du unterrichtest Harfe, Klavier, Flöte und Gesang. Deine Schülerin ist die entzückende Alys, die Ehefrau von Van Eck. Du hast außerordentliches musikalisches Talent, ein bezauberndes Lächeln und die Fähigkeit, andere für dich zu gewinnen. Ob das mit der Ehefrau deines Arbeitgebers mehr ist als nur ein Flirt, weißt nur du selbst, doch Alys scheint einen besonderen Platz in deinem Herzen zu haben und zumindest mehr als nur deine Schülerin zu sein. Sicher ist jedenfalls, dass mit deinem Chef nicht gut Kirschen essen ist. Du erahnst es daran, wie er mit seinen anderen Angestellten umgeht und an diesem seelenlosen, kalten Blick. Zu dir war er bisher tadellos und nett – zumindest bis vor Kurzem. Zuletzt wirst du beauftragt, kleinere Aufträge von Van Eck zu erledigen, die rein gar nichts mit Musik zu haben. Du erhaschst immer einen kleinen Einblick, sodass du nicht verstehst, worum es im Ganzen geht. Du weißt nur, dass es üble Geschäfte sind, die Van Eck da im Dunklen treibt und in die du nach und nach mit reingezogen wirst. Du tätest gut daran, deine eigenen Geheimnisse gut vor Jan Van Eck zu hüten.

Deinen wahren Namen Maelle Van Ophoven kennt niemand, nicht einmal du selbst. Auch brächte dich niemand mehr in Verbindung mit dem einst altehrwürdigen Kaufmann Kees Van Ophoven – dein Ehemann, der in deiner Erinnerung einen anderen Namen trägt, vor wenigen Jahren verstarb und den du vor 16 Jahren verlassen hast. Zumindest ist es das, was man dir immer und immer gesagt hat und du inzwischen womöglich selbst glaubst. Vor 16 Jahren warst du nur kurz außer Haus, um etwas zu besorgen, als sich eine allumfassende Schwärze über dich legte. Du wachtest in einem keller- oder kerkerartigen Gewölbe auf. Dir wurden immer wieder dieselben Fragen gestellt, die alle auf die Handelsgeschäfte und damit verbundenen Geheimnisse deines Ehemannes abzielten. Schließlich wehrtest du dich selbst unter Aufgebot deiner Fähigkeiten als Grisha, doch es nützte nichts. Die Tage verschwammen in der ewigwährenden Nacht des Kellers, der zu deinem Gefängnis geworden war und dich nach und nach dich selbst vergießen ließ. Du ahnst nicht, dass Jan Van Eck, ein Konkurrent deines Ehemannes, dich schon länger beobachtet hat und entführen ließ, um wertvolle Informationen aus dir herauszupressen. Doch nun, da sich herausstellt, dass du Grisha bist, gewannst du an weiterem Wert und wurdest unter einem Zwangsvertrag dem Haushalt von Van Eck einverleibt. Hast du gänzlich vergessen, wer du bist? Erinnerst du dich manchmal an dein früheres Leben? Stehst du gar unter dem Einfluss der Grishadroge Jurda Parem, sodass der Vertrag längst nicht mehr das Einzige ist, das dich an Van Eck bindet? Während deine Familie dich für tot hält, obschon man deinen Leichnam nie gefunden hat, wandelst du auf den finsteren, verlassenen Pfaden deines eigenen Gedächtnisses. Du spürst, dass da mehr ist, als das, was man dir hier erzählt, doch du kannst es nicht gänzlich fassen. Ob vielleicht Jurij mehr weiß? Zumindest war er immer nett zu dir. Fakt ist, dass dich deine Tochter Fleur mehr denn je braucht, nachdem alle anderen deiner Familie verstorben sind – oder zumindest für tot gehalten werden. Vielleicht ist dies der richtige Zeitpunkt, dass Tote wiederauferstehen?

Du stammst ursprünglich aus Ravka und bist dem ewigen Bürgerkrieg entflohen, als du nach Kerch gekommen bist. Hier wurdest du allerdings von Menschenhandlern aufgegriffen und einem Zwangsvertrag unterstellt, der dich zur Tätigkeit im Haushalt der Van Ecks verpflichtet. Anfangs hast du dich dagegen gesträubt, doch inzwischen bist du seit so vielen Jahren im Haushalt der Van Ecks, dass es sich wie ein Zuhause für dich anfühlt. Zumindest redest du dir das ein. Über die Jahre bist du gemütlich geworden, als letzter Widerstand ist dein bitterer Zynismus geblieben. Was ist aus deiner Familie geworden? Sind sie im Krieg, den du nicht verhindern konntest und aus dem du feige geflohen bist, gestorben? Die Van Ecks sind dir inzwischen wie eine Familie geworden. Mit dem Hausherrn trinkst du gerne einmal einen edlen Tropfen. Alys hat sich das eine oder andere Mal bei dir ausgeheult. Den Sohn des Kaufmannes Wylan Van Eck hast du länger nicht mehr gesehen. Du bist die Augen und Ohren des Haushaltes und bekommst vieles mit. Einzig die andere Grisha bleibt dir ein Rätsel. Ein Rätsel, das es dir wahrlich angetan hat. Vielleicht erinnert sie dich an deine einstige Frau, die du zurückgelassen hast? Manchmal, des Nachts, wenn in deinen Träumen Platz ist für den jungen Rebellen, der du einst warst, malst du dir aus, wie es wäre, mit der hübschen, mysteriösen Frau durchzubrennen oder irgendwo anders gänzlich neu anzufangen. Nicht ahnend, dass sie noch weniger als du imstande ist, das Leben in Ketterdam hinter sich zu lassen.

Du bist ein Kind des Barrels und dessen von Armut, Gewalt und Skrupellosigkeit geprägter Umgebung von Kindesbeinen an gewohnt. Dein Vater war einst ein Händler, der Fische auf dem Markt verkaufte, bis er zunehmend krank wurde und dem Markt fernbleiben musste. Nun war es an deiner Mutter, für den finanziellen Erhalt der Familie zu sorgen. Doch Fischerei war nicht ihr Metier und ihr Gebäck war auf dem Wochenmarkt nicht gefragt, sie brachte kaum Geld für die Familie ein. Irgendwann war sie vor allem nachts außer Haus. Was sie getan hatte, weißt du nicht, aber du hörtest sie des Öfteren nachts weinen. Du hast beschlossen, selbst für deine Familie zu kämpfen und hast begonnen, hier und da Kleinigkeiten zu stehlen, die nicht weiter auffielen, um die Finanzen der Familie etwas aufzustocken. Deine Mutter fragte nicht weiter nach. Als die Feuerpocken Ketterdam fest im Griff hatten, verstarb zuerst dein Vater, dann deine Mutter und schließlich dein jüngerer Bruder. Einzig du hast überlebt. Damals warst Du fünfzehn Jahre alt. Du hast dich wechselnden Banden des Barrels angeschlossen, mal mehr, mal weniger Glück gehabt. Eines Tages lerntest du Mikka Pior kennen, der dir das Leben rettete und wie ein Bruder wurde. Ihr seid schmutzige Geschäfte, Entführungen, Folterungen, Prügeleien und Drohungen, die abgetrennte Körperteile beinhalten, gewohnt. Du bist dir für keine Arbeit zu schade, vielleicht hast du auch manchmal so etwas wie Freude daran, anderen Schreie zu entlocken oder den letzten Lebensfunken aus ihnen zu löschen, verleiht es dir doch erstmals so etwas wie Macht. Als Mikka Pior nach einer Schlägerei schwere Knochenbrüche erlitt, war es Van Eck, der euer Talent sah und deinen Seelenbruder mithilfe eines Heilers das Leben rettete. Fortan stehst du im Dienste von Van Eck und bist ihm dankbar für alles, was er dir getan hat. Du bist ihm loyal und hast auch nicht gezögert, als es darum ging, Wylan Van Eck, den Sohn deines Bosses, zu töten. Nur leider ist der Wurm deinem Griff entwischt.

Eigentlich wärst du am besten an der Universität Ketterdam aufgehoben. Dein handwerkliches Geschick und Fingerfertigkeiten sind an die Schlösser, die du immer mal wieder knackst, eigentlich vergeudet. Auf der anderen Seite bist du jemand, der Mühe scheut und sich seinen Weg durchs Leben schlängelt – auch gerne auf Kosten anderer. Wer kann es dir verübeln? Du bist das Kind einer Prostituierten aus dem Barrel und als solches sehr schnell auf dich allein gestellt gewesen. Die Banden im Barrel wurden deine Familien – und Feinde. Die Machtverhältnisse und Bandennamen im Barrel wechselten eine Zeit lang beinah wie die Jahreszeiten, sodass du immer wieder die Seiten gewechselt hast. Einzig deinem Charme ist es zu verdanken, dass du überhaupt noch aufgenommen und nicht wegen Verrats hingerichtet wurdest. Miggson wurde dir wie eine Art Bruder, ihr seid so unterschiedlich wie Tag und Nacht und doch auf einer Wellenlänge. Du ziehst der groben Arbeit jedoch lieber das Schmiereschieben, Schlösserknacken und Ausfeilen von Plänen vor. Du bewunderst das strategische Talent deines Bosses Van Eck, zugleich ist dir der Typ nicht geheuer. Nun, muss er auch nicht, solange er dich bezahlt. Verraten würdest du ihn jedoch nur zu einem unverschämt guten Preis, immerhin hat er dich von einem Heiler zusammenflicken lassen, als du schon dein letztes Stündlein läuten hörtest. Auch du hast nicht gezögert, den Auftrag, Wylan Van Eck zu beseitigen, anzunehmen. Nur leider ist der etwas schiefgegangen.